1924
Vor hundert Jahren (1924)
Bernhard Klingenstein
Nach dem Jahr 1923 mit seiner „Hyperinflation“ verbunden mit ihren verheerenden Folgen für die Bevölkerung, brachte 1924 eine Beruhigung und erste Erfolge in der Stabilisierung von Währung, Wirtschaft und Innen- und Außenpolitik.
Mit der Zwischenwährung (Rentenmark) konnte die Inflation gestoppt werden. Der Kurs der neuen Währung pendelte sich bei 4,20 Rentenmark zu einem US-Dollar ein. Mit neuen Steuern, Abbau von Beamtenstellen und stark gekürzten Gehältern blieben der Wert des Geldes, aber auch die Preise stabil. Das Wirtschaftsleben sollte sich in den folgenden Jahren normalisieren auf einem Niveau des knappen Geldes und auf der Basis eines niedrigen Lebensstandards. Dazu trug maßgeblich ein Finanzierungs-plan bei, den internationale Sachverständige unter Leitung des Amerikaners Charles G. Dawes erarbeitet hatten. Dieser sah vor, dass mit einem Kredit von 800 Millionen Goldmark und zunächst reduzierten Reparationszahlungen, Deutschland in die Lage zu versetzen, die Zahlungen überhaupt in Gang zu bringen. Nachdem die Regierungen von Großbritannien, Frankreich, Italien und Belgien den Plan akzeptiert hatten, gelang am 09. August der Durchbruch in den Verhandlungen mit dem deutschen Reich. Danach soll das Deutsche Reich zunächst fünf Jahre weniger zahlen als ursprünglich vorgesehen. Ab 1929 sollen dann die jährlichen Reparationszahlungen auf 2,5 Milliarden Goldmark steigen. Am 29. August 1924 stimmte der Reichstag diesem Plan zu. Die mit dem Plan vorgeschlagene Räumung des Ruhrgebiets von belgischen und französischen Truppen scheiterte an der starren Haltung Frankreichs, während Großbritannien für die sofortige Räumung plädierte. Die französischen Truppen zogen erst 1925 ab. Mittels dieses Kredites und weiteren Investitionen aus dem Ausland kam es nach und nach zum wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland. Im Zuge der Normalisierung dürfen im September, die von den Besatzungsbehörden aus dem Ruhrgebiet ausgewiesenen 180 000 Personen zurückkehren. Zeitgleich befürwortet der britische Premierminister MacDonald die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund.
Innenpolitisch ist das Jahr gekennzeichnet von den Wahlen zum Reichstag am 04. Mai und am 07. Dezember 1924. Beides Mal erreichen die bürgerlichen Parteien der Mitte - Deutsche Volkspartei, Zentrum und Deutsche Demokratische Partei - keine Mehrheit und nehmen Koalitionsverhandlungen mit der Deutschen Nationalen Volkspartei auf. Bei beiden Wahlen wird die SPD stärkste Partei. Im Dezember erreicht die NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) zum ersten Mal eine Vertretung im Reichstag.
Im Zusammenhang mit der Normalisierung der Verhältnisse hebt der Reichspräsident Friedrich Ebert, den am 26. September 1923 verhängten Ausnahmezustand im Deutschen Reich auf.
Eine andere, für die weitere Geschichte Deutschlands entscheidende Begebenheit, zum damaligen Zeitpunkt zwar hochpolitisch, aber in ihrer verheerenden Auswirkung erst ab 1933 deutlich, ist der am 26. Februar beginnende Hochverratsprozess gegen Adolf Hitler, Erich Ludendorff und weitere am „Hitler-Putsch“ vom 8./9. November 1923 beteiligten Personen in München. Für die Angeklagten gibt es milde Urteile. Hitler und 3 weitere Angeklagte werden zu einer Mindeststrafe von je fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Ludendorff wird freigesprochen. Ende Dezember 1924 erhält Hitler eine großzügige Bewährungsstrafe und wird aus der Festungshaft in Landsberg entlassen. Die Zeit in der Haft nutzt Hitler um sein Pamphlet „Mein Kampf“ zu verfassen. In diesem Zusammenhang mag es im Nachhinein wie ein Treppenwitz klingen, dass am 22. September 1924 das bayrische Innenministerium einen Antrag der Landespolizei auf Ausweisung von Hitler in seine Heimat nach Österreich, abgelehnt hat.
Quellen: Wikipedia; LeMo Jahreschronik – Chronik 1924 Doris Blume / Manfred Wichmann, Deutsches Historisches Museum, Berlin, 2. Mai 2015
Wie war nun die Lage in Trochtelfingen?
Im ländlichen Städtchen Trochtelfingen, mit seinen knapp 1200 Einwohnern, ging das Leben nach den turbulenten Jahren der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit wieder seinen gewohnten Gang. Auch, wenn die finanziellen Gegebenheiten für alle prekär blieben.
Anhand der Strompreisentwicklung für seinen Haushalt zeigt der Ortschronist Dietrich auf, wie fatal die Lage bis Ende 1923 war und sich dann 1924 auch in diesem Segment stabilisierte.
Zitat:
„Strompreise:
Mit der Geldentwertung 1923 stiegen natürlich die Strompreise im gleichen Tempo. So bezahlte ich (Hauptlehrer Franz Anton Dietrich) beispielweise 1923 in den
Monaten Januar – Februar für 16 Kw = 800 M
März – April für 13 Kw = 13500 M
Mai – Juni für 13 Kw = 23900 M
Juli 69000 M
August 10431000 M
September 330000000 M
Am 1. Dezember wurde die Mark wieder stabil. Der Inflation Ende war gekommen. Ich zahlte für die Monate November und Dezember 6,60 M.“
1924 blieb der Strompreis stabil.“
Die weiteren Ereignisse und Schilderungen der Zustände sind nun chronologisch nach seinen Aufzeichnungen wiedergegeben.
Landwirtschaft
„Im Jahr 1924 wurden in Trochtelfingen ca. 40 Obstbäume gepflanzt. Obst gab es reichlich, auch hier waren die Bäume voll behangen, erneuter Hinweis, dass auch hier Obst gedeiht, wenn nur mehr Bäume gepflanzt würden. Der Obstbau-Verein beteiligt sich mit insgesamt 37 Sorten Äpfel und Birnen an der Hohenzollerischen Landesausstellung in Sigmaringen 4., 5. u. 6. Oktober und erhielt den 2a Preis mit 20 Mark, auch eine Beihilfe von 21 Mark von der Landwirtschaftskammer Sigmaringen“
„Honigertrag gering. Preis richtete sich nach dem Butterpreis (1.60 bis 2 Mark).“
Waldwirtschaft
„Es hat sich herausgestellt, dass die hiesigen Waldungen in Folge außerordentlicher Hiebe in den Kriegsjahren 1914 bis 18 nur noch einen ganz minimalen Bestand von schlagbarem Holz aufwiesen. Im Jahr 1924 erhielten die Bürger an Holzgeld in bar nach Abzug aller Unkosten 43 Mark“.
Post
„Auf den 1. April 1924 ist das hiesige Postamt III (1858 – 1923, Rathausplatz 1, von 1924 -1954, Marktstraße 6) infolge des allgemeinen Beamtenabbaus und anderen Sparmaßnahmen zu einer Postagentur herabgesetzt worden. Die Agentur wurde dem hiesigen Postbetriebsassistenten Paul Ott übertragen. Die Agentur ist dem Postamt Gammertingen zugeteilt. Den Postverkehr von hier bis Melchingen vermittelt eine tägliche einmal hin und herfahrende Privatpost. Auch ein Briefträger geht täglich einmal über Hörschwag nach Stetten u. H. Einmalige Bestellung gibt es von hier aus nach Steinhilben und nach der Heide (Gemeint ist der Ortsteil Haid. In früheren Dokumenten gibt es verschiedene Schreibweisen für die Haid. Neben der heute gebräuchlichen Schreibweise Haid, auch Haide oder Heide).
Wahlen
„Auf den 4. Mai 1924 waren mit der Reichstagswahl auch die Wahlen zur Gemeindevertretung festgesetzt. Wahlergebnis 3 alte und 9 neue Mitglieder. Auf den 15. Juni war die Wahl des Bürgermeisters und des Gemeinderats (bestehend aus einem Beigeordneten und 4 Schöffen) festgesetzt. In Trochtelfingen, als Gemeinde mit über 1000 Einwohnern, hat die Gemeindevertretung das Recht den Bürgermeister zu wählen. Die Gemeindevertretung wollte aber die Verantwortung nicht allein auf sich nehmen und wollte den Entscheid in eine allgemeine Bürgerabstimmung legen. Von den 700 Wahl-berechtigten stimmten 520 ab und es erhielten durch diese Abstimmung der frühere Postschaffner Kromer 292, der Junglehrer Josef Rein, Sohn des bisherigen Bürgermeisters 126 und der Landwirt Konrad Klingenstein 12 Stimmen. Ersterer, da er absolute Stimmenmehrheit hatte, galt also auch für die Gemeindevertretung als Gewählter. Hermann Kromer, gebürtig von Veringenstadt war hier im Postdienst tätig bis zum 1. Mai. Durch den Beamtenabbau ist er vorläufig pensioniert worden. Der bisherige Bürgermeister Alois Rein, der 18 Jahre lang der Gemeinde vorstand kam, da er 73 Jahre alt war, bei der Neuwahl nicht mehr in Frage. Von den Bürgerkollegien wurde dem Herrn Altbürgermeister Rein, die kleine, stets widerrufliche Pension von 200 Mark bewilligt.“
Schulwesen
„Auf den 01. Oktober 1924 wurde der bisherige Hauptlehrer Franz Haug, hier seit 01. Oktober 1892, infolge des Beamtenabbaugesetzes abgebaut und dauernd in den Ruhestand versetzt (32 Dienstjahre in Trochtelfingen, Organist und Dirigent des Männergesangsverein & Kirchenchor, mit 63 Jahren pensioniert). Als Schulleiter wurde nun der dienstälteste Lehrer Franz Anton Dietrich hier seit 20. Januar 1892, bestimmt.“
Anm.: Hauptlehrer Haug verstarb 1940 im Alter von 79 Jahren.
Fürsorge für die Armen
„Durch die aus dem verlorenen Krieg eingetretene Geldentwertung ist das Kapital des Armenfonds wertlos geworden. Die Kleinrentner, das heißt die Leute deren Vermögen vor dem Kriege nur in Barvermögen, beziehungsweise in Wertpapieren bestand und nun durch diese Inflation auch arm geworden waren, erhalten wenn sie alt und erwerbsunfähig geworden sind, die sogenannte Kleinrentenunterstützung, welche zu 2/3 vom Kommunalverband und zu 1/3 von der Gemeinde aufgebracht werden. Jedoch ist die Bedingung damit verknüpft, dass bei ihrem Tode auf ihre Wertobjekte, wenn solche vorhanden sind, die Rentengeber Kommunalverband und Gemeinde zuerst die Hand darauflegen, um so dargebotene wieder zu erhalten. Diese Renten betrugen monatlich 5 bis 20 Mark.“
Gebäude
„Der Landwirt Josef Hummel erbaut auf der Neuwiese ein neues Wohn- und Ökonomiegebäude.“
2024; Haus Mühltalstraße 3, ehem. Nr. 360
Selbstmord
„Im Januar 1924 erhängte sich der etwa 20 Jahre alte Jüngling Anton Vogel auf dem Kressenberg an einem krüppelhaften Baum. Ein hiesiges Dienstmädchen von Stetten unter Hölstein gebürtig, war von ihm in anderen Umständen. Die Mutter soll ihrem Sohn ständig Vorwürfe gemacht haben und hat ihn, wie man annahm, zu dieser Tat getrieben. Sonst war er ein stiller, artiger, junger Mensch.“
Quellen: Lehrer Franz Anton Dietrich, Ortschronik von Trochtelfingen Fotos: Sammlung GHV-Trochtelfingen
Rudolf Griener: „Das Leben im Städtle“, Trochtelfingen 1900 - 2000
Wikipedia: LeMo Jahreschronik – Chronik 1924
Readers Digest / ADAC-Verlag, 2009; „Ereignisse die Deutschland veränderten“, S. 297
Hermann Kromer (1874 – 1947)
Bürgermeister von 1924 - 1933
Paul Ott, (1882 – 1953)
Postverwalter von 1924 - 1949
Haus Mühltalstraße 3, ehem. Nr. 360; 2024;