1923 Das Jahr der Inflation!
von Bernhard Klingenstein
Das Jahr 1923 ist in Deutschland, vor allem als das Jahr der „Hyperinflation“ mit ihren verheerenden Folgen für die Bevölkerung, in Erinnerung geblieben. Die starke Inflation der Vorjahre, deren Grundlage durch die Finanzierung der Kriegskosten des ersten Weltkrieges bereits gelegt war, geriet aufgrund der horrenden Reparationszahlungen an die Alliierten völlig außer Kontrolle.
Nachdem Deutschland bei den Reparationszahlungen in Rückstand geraten war, wollten die Siegermächte (Großbritannien, Frankreich, Italien und USA) die Reparationsleistungen direkt in Form von Kohle und Holz eintreiben. Dazu besetzten die Truppen Belgiens und Frankreichs im Januar 1923 das Ruhrgebiet. Dies löste eine nationale Empörung aus. Die deutsche Regierung rief daraufhin die Menschen an Rhein und Ruhr zum Generalstreik auf. Die Bevölkerung folgte dem Aufruf und reagierte mit dem passiven Widerstand gegen die Anordnungen der Besatzungsmächte. Die Arbeiter streikten. Die Lohnzahlungen von rund 2 Millionen betroffenen Arbeitern übernahm der Staat. Die Steuerausfälle und die hohen Zusatzkosten sowie die immer schnelle steigende Inflation erschöpften den Staatshaushalt und führten schließlich zur Hyperinflation. Die Abwertung gegenüber dem Dollar verzehnfachte sich, bis man schließlich im November 1923 für einen US-Dollar 4,2 Billionen Reichsmark zahlen musste. Dies führte zu einer Verarmung der kleinen Leute und des Mittelstandes, während Spekulanten oft zum Nulltarif ganze Firmen erwerben konnten. Auch Spekulanten aus dem Ausland kauften Grundstücke, Häuser und sogar Konzerne zu Schleuderpreisen ein. Zu Recht sprach man damals vom Ausverkauf der deutschen Wirtschaft.
Nach 7 Monaten Ruhrkampf sah Reichskanzler Gustav Stresemann keinen Ausweg mehr, als den passiven Widerstand abzubrechen. Im September 1923 wurden die Notenpressen stillgelegt und die Ausgaben rigoros beschränkt. Aber erst mit der Zwischenwährung (Rentenmark) konnte die Inflation gestoppt werden. Damit sollte die Reichsmark stabilisiert werden. Der Kurs der neuen Währung pendelte sich bei 4,20 Rentenmark zu einem US-Dollar ein. Mit neuen Steuern, Abbau von Beamtenstellen und stark gekürzten Gehältern blieben der Wert des Geldes, aber auch die Preise stabil. Das Wirtschaftsleben sollte sich in den folgenden Jahren normalisieren auf einem Niveau des knappen Geldes und auf der Basis eines niedrigen Lebensstandards.
Neben den Auswirkungen der Inflation und ihrer Abwehr kamen politische Unruhen sowie politisch motivierte Morde und Umsturzversuche hinzu. Die nachstehend exemplarisch aufgeführten Ereignisse verdeutlichen die schwierige Lage Deutschlands im Jahre 1923.
11. 1.1923: Französische und belgische Truppen marschieren in das Ruhrgebiet ein.
13. 1.1923: Reichskanzler Wilhelm Cuno verkündet im Reichstag den "passiven Widerstand" gegen die Besatzungstruppen im Ruhrgebiet. Dazu gehört die Verweigerung jeglicher Zusammenarbeit mit den Besatzern.
18. 1. 1923: Der Wert eines US-Dollars erreicht einen Stand von 23.000 Reichsmark.
24. 1. 1923: Wegen der Weigerung, Kohle zu liefern, werden der Zechenbesitzer Fritz Thyssen und weitere Industrielle vom französischen Kriegsgericht in Mainz zu hohen Geldstrafen verurteilt.
27. - 29. 1. 1923: Erster Parteitag der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) in München. Innerhalb eines Jahres ist die Mitgliederzahl der Partei von 6.000 auf 55.000 gestiegen.
4. 2. 1923: Die Franzosen dehnen das Besatzungsgebiet am Rhein weiter aus und besetzen die Städte Offenburg und Appenweier.
20. 2. 1923: Der Oberbefehlshaber der französischen Besatzungstruppen im Ruhrgebiet erlässt ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gegen alle deutschen Regierungsmitglieder.
1. 3. 1923: Die Besatzungsmächte im Ruhrgebiet drohen die Todesstrafe für Sabotageakte und passiven Widerstand im Eisenbahntransportwesen an.
31. 3. 1923: Französische Soldaten erschießen im Essener Krupp-Werk dreizehn Menschen, weil sie mit vielen weiteren gegen die Beschlagnahmung von werkseigenen Kraftwagen protestieren.
16. 4. 1923: Die Reichsregierung signalisiert aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Ruhrbesetzung die Bereitschaft zur Wiederaufnahme der eingestellten Reparations-leistungen. Ihr Angebot einer Zahlung von insgesamt 30 Milliarden Goldmark wird von den Siegermächten als indiskutabel abgelehnt.
11. 7. 1923: Die Reichsregierung veröffentlicht eine Bilanz der Ruhrbesetzung: 80.000 französische und 7.000 belgische Soldaten sind stationiert, 17.000 Eisenbahner aus beiden Ländern verrichten die Arbeit ihrer entlassenen deutschen Kollegen, 92 Menschen wurden bisher getötet und über 70.000 aus den besetzten Gebieten ausgewiesen.
13. 8. 1923: Gustav Stresemann wird als neuer Reichskanzler und Außenminister vereidigt. Er bildet eine Große Koalition von DVP (Deutsche Volkspartei), DDP (Deutsche Demokratische Partei), Zentrum und SPD.
24. 9. 1923: Reichskanzler Stresemann gibt den Abbruch des passiven Widerstands und die Wiederaufnahme von Reparationslieferungen bekannt.
In Bayern reagiert die dortige Regierung auf Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch mit der Verhängung des Ausnahmezustands. Der republikfeindlich eingestellte Gustav Ritter von Kahr wird zum bayerischen Generalstaatskommissar ernannt und erhält diktatorische Vollmachten. Daraufhin befürchtet die Reichsregierung einen bayerischen Rechtsputsch gegen Berlin. Reichspräsident Ebert verhängt den Ausnahmezustand über das gesamte Deutsche Reich.
21. 10. 1923: In Aachen rufen Separatisten eine unabhängige Rheinische Republik aus. Vier Tage später proklamieren Separatistenführer die Errichtung der Unabhängigen Rheinischen Republik. Ihr Vorhaben scheitert am 16. November 1923 am Widerstand der Bevölkerung und der Regierung.
22. 10. 1923: Auf Weisung von Reichswehrminister Geßler rücken Reichswehrtruppen in Sachsen ein. Die KPD hatte gemeinsam mit den linksgerichteten SPD-Landesverbänden den Widerstand gegen die Reichsregierung proklamiert.
23. 10. 1923: In Hamburg wird ein Aufstand der Kommunisten unter Führung von Ernst Thälmann durch die Polizei blutig niedergeschlagen.
29. 10. 1923: Reichspräsident Ebert ermächtigt die Reichsregierung zur Reichsexekutive gegen Sachsen. Die sächsische SPD/KPD-Regierung wird abgesetzt.
29.10.1923 Erste deutsche Radiosendung in Berlin.
5. 11. 1923: Reichswehrtruppen rücken in Thüringen ein. Wie in Sachsen hatte die KPD zum Widerstand gegen die Reichsregierung aufgerufen.
8./9. 11. 1923: Hitler-Putsch: Adolf Hitler verkündet im Münchener Bürgerbräukeller die "nationale Revolution", erklärt die bayerische Regierung für abgesetzt und proklamiert den "Marsch auf Berlin". Die Landespolizei schlägt an der Münchener Feldherrnhalle den Putsch gewaltsam nieder. Die NSDAP wird verboten.
Ein US-Dollar steht bei 631 Milliarden Reichsmark.
16. 11. 1923: Die Deutsche Rentenbank beginnt mit der Ausgabe der neuen Rentenmark (Währungsreform). Für eine Billion Mark wird eine Rentenmark ausgezahlt.
General von Seeckt erlässt ein reichsweites Verbot der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei), der DVFP (Deutschvölkische Freiheitspartei) und der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands).
Quellen: Wikipedia; LeMo Jahreschronik – Chronik 1923
Wie war nun die Lage in Trochtelfingen?
Der Ortschronist, Lehrer Franz Anton Dietrich, schreibt hierzu:
„Die Deutschland von den Siegermächten auferlegten Reparationszahlungen waren so ungeheuerlich, daß man sie in Deutschland nicht aufzubringen vermochte, namentlich die Kohlen- und Holzlieferungen. Leicht konnten daher von den Feindstaaten Verfehlungen festgestellt werden. Besonders war es Frankreich, das Deutschland mit allen Mitteln niederknebelte. Das beste Mittel, dessen es sich im Wirtschaftskampf gegen Deutschland bediente, war der Druck auf die deutsche Währung, der so oft erneuert wurde, bis die deutsche Mark vernichtet war. Die deutsche Regierung sah sich in die Lage versetzt, den passiven Widerstand anzunehmen. Das war die Gelegenheit, welche Frankreich erwartet hatte, um das rechtsrheinische Gebiet von Münster (Westfalen) bis nach Karlsruhe / Offenburg (Baden) besetzen zu können. Der Einmarsch geschah im Januar 1922. Durch die Besetzung wurde die deutsche Wirtschaft von der stärksten Quelle ihrer Kraft abgeschnitten und dadurch der Markwährung jede Aussicht auf Besserung und Stabilität genommen. Die Wirkung war der bodenlose Absturz der Mark. Die Feinde nahmen den ganzen Wirtschaftsbetrieb, den Bahn- und Schiffsverkehr in die Hand, erhoben Zoll vom unbesetzten ins besetzte Gebiet, nahmen den Zechenbetrieb in eigene Regie, führten alle Kohlen weg, holzten die Wälder ab, schikanierten die Einwohner der besetzten Gebiete auf alle mögliche Weise, setzten die Beamten ab, nahmen sie gefangen, verurteilten sie zu unerhörten Geld- und Gefängnisstrafen. Die Einwohner mußten ihre Häuser räumen, die Städte ganze Reihen von Häusern bauen für die Besatzungsmannschaften und ihre Familien. Den Städten wurden bei geringsten Verfehlungen schwere Kontributionslasten aufgehalst, große Complexe fruchtbaren Geländes mußten zu Exerzier,- Schieß- und Flug-plätzen abgetreten werden. Um die durch die Besetzung arbeitslos- und verdienstlos gewordene Bevölkerung am Leben zu erhalten, sie nicht im Stich zu lassen, um zu verhüten, daß sie sich nicht den Feinden in die Arme warf, mußte das ganze nicht besetzte Deutschland gewaltige Opfer bringen (Ruhrabgabe). Auch nach der Einstellung des passiven Widerstandes dauerte der französische Druck auf die deutsche Wirtschaft fort, so daß die Währungszerrüttung nicht zum Stillstand kommen konnte. Am 14. November 1923 sank der Dollar auf eine Billion Mark. Endlich gelang es der deutschen Regierung die Mark zu stabilisieren. Auf Grund des Bankgesetzes für die Schaffung der Rentenmark wurde der gesamte Grundbesitz in Deutschland und die gesamte Industrie als Gegenwert für die Rentenmark herangezogen und belastet. Die Mark erhielt den Kurswert eines Viertel-Dollars, und am 1. Dezember 1923 wurden die ersten Rentenmarken ausgegeben. Das finanzielle Kunststück war geglückt, aber das deutsche Volk war verarmt und eine schwere wirtschaftliche Krisis war die Auswirkung.“
Nachstehender Auszug aus der Lauchert-Zeitung vom März 1923 zeigt bereits die Richtung an, in welche Höhen die Preise noch steigen sollten. So kostete gemäß der Anzeige im Geschäft des Wilhelm Mager zu Trochtelfingen eine Glühlampe 4800 Mark, ein Bügeleisen 18 000 Mark. Zum Höhepunkt der Inflation im November 1923, wurden im deutschen Reich für 1 kg Roggenbrot etwa 233 Milliarden Mark verlangt.
Ein weiteres Beispiel für die zerrütteten Staatsfinanzen war die Herausgabe von Notgeld. Der Mangel an Zahlungsmitteln sollte dadurch reduziert werden. Notgeld sollte auch in Hohenzollern die Not lindern.
„Notgeld wird in wirtschaftlichen Krisenzeiten ausgegeben. Es soll den Mangel an gesetzlichen Zahlungsmitteln wie Münzen und Banknoten beheben. Zudem ist Notgeld ein zeitlich und regional begrenztes Zahlungsmittel. Es ist nur gültig innerhalb eines bestimmten Ortes oder Bezirks und für einen bestimmten Zeitraum. (Wikipedia; Kapitel Notgeld 1923)
Die wenigen Aufzeichnungen des Chronisten Dietrich in diesem Jahr zeugen auch davon, wie die tägliche Sorge um das „Überleben“, alles andere dominierte und unterdrückte. Die sonst so detaillierten Aufzeichnungen beschränken sich im Jahr 1923 auf die oben aufgeführte Bewertung der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung im deutschen Reich sowie auf die kurzen nachstehenden Notizen. So zeigt Dietrich anhand der Strompreisentwicklung für seinen Haushalt auf, wie fatal die Lage war.
„Strompreise:
Mit der Geldentwertung stiegen natürlich die Strompreise im gleichen Tempo- So bezahlte ich (Hauptlehrer Franz Anton Dietrich) beispielweise 1923 in den Monaten
Januar – Februar für 16 Kw = 800 M
März – April für 13 Kw = 13 500 M
Mai – Juni für 13 Kw = 23 900 M
Juli 69 000 M
August 10 431 000 M
September 330 000 000 M
Am 1. Dezember wurde die Mark wieder stabil. Der Inflation Ende war gekommen. Ich zahlte für die Monate November und Dezember 6,60 M.“
Ansonsten erwähnt der Chronist nur noch diese beiden Punkte:
„Im Jahr 1923 wurden in Trochtelfingen 60 Obstbäume gepflanzt“.
„Honigertrag gering. Preis richtete sich nach dem Butterpreis“
Die nachstehenden mündlichen Überlieferungen schildern die damalige Lage aus Sicht der betroffenen Personen, bzw. sind den Rechnungsbüchern der Stadt entnommen.
1. Die Familie Kaspar Schmid verkaufte am frühen Morgen eine Färse (geschlechtsreifes Hausrind, das noch kein Kalb geboren hat) an den Besitzer der unteren Mühle. Mit dem Geld eilte Kaspar Schmid zu Otto Klingenstein (Mechaniker) und kaufte einen Motor für seine Futterschneidmaschine. Mit dem verbleibenden Geld besorgte er sich um die Mittagszeit noch einen Sack Mehl aus dem Lagerhaus. Die Restsumme wurde dann sofort beim „Tucher“ (Bekleidungsgeschäft Schoser) ausgegeben. Zitat von Kaspar Schmid zu diesem Gebaren, das gesamte Geld innerhalb weniger Stunden auszugeben: „Man muß gleich alles vertun, morgen hat das Geld keinen Wert mehr“
2. Bräumeister Josef Schmid führte dazu aus: „Damit man nicht einging (zahlungsunfähig wurde), konnte man nur Ware gegen Ware tauschen, was ich auch tat. Sein Fazit „Wer nicht tauschte, hatte nichts mehr“.
3. Aus dem Rechnungsbuch der Stadt von 1923 wird unter anderem vermerkt: „Das Gehalt des Bürgermeisters Rein betrug im November 15 783 148 000 000 Mark. Im selben Monat kaufte die Stadt einen Farren für 2 083 000 000 000 Mark.“
Quellen: Lehrer Franz Anton Dietrich, Ortschronik von Trochtelfingen; Fotos: Sammlung GHV-Trochtelfingen
Rudolf Griener: „Das Leben im Städtle“, Trochtelfingen 1900 - 2000
Wikipedia: Kapitel Notgeld 1923
Wikipedia: LeMo Jahreschronik – Chronik 1923